KATHA war die Tochter des „großen Ludewig“. Einem Lebemann und Macher, dem Vergolder der Kupferwappen von August dem Starken im Grünen Gewölbe und ein Schmuckgestalter im Verband Bildender Künstler in Dresden. Er war ein großgewachsener Sachse mit breiten Kreuz und einem Selbstbewusstsein mit Strahlwirkung. Meistens trug er breitgereihte beigefarbene Kordhosen und einen Rollkragenpullover aus Kashmir, unter dessen Kragen ein Seidentuch mit Paisley Muster hervorblitzte. Am Ringfinger trug er rechts den goldenen Ehering und links einen Siegelring mit einem blauen Lapis-Lazulith, in den ein Wappen eingraviert war. Früh kam er zu einer Glatze, über die er seine Lederkappe charmant ins Gesicht zog und dunkelbraune, etwas längere Locken darunter herausschauten. Jeder in der Stadt kannte ihn. „Der Ludewig ist Künstler. Der macht Schmuck und vergoldet fürs Grüne Gewölbe.“ war die kurze Antwort, wenn jemand nach ihm fragte. Durch seine robuste und einladende Art zog er ohne Mühe sofort jeden mit in seinen Bann. Er war eloquent, belesen, gut gekleidet und in der Hosentasche hatte er immer ein Bündel Geldscheine. Auftretend mit einer Attitude von sächsischem Hofstaat und einem übertrieben einflussreichen Umgang mit Künstlern und Personen des öffentlichen Lebens aus Politik und Wirtschaft. Niemand wusste so recht, wer der Ludewig mit seinen weitreichenden Kontakten wirklich war. Er trat auf, wie ein Zentaur aus der griechischen Mythologie. Unter der aufbäumenden Kraft eines wilden Pferdes besaß er die undurchschaubare Raffinesse eines, alles und jeden beobachtenden Mannes, der dominant mit seinem Charme jede Unterhaltung und jeden Plan ganz geschickt manipulierend und erfolgreich für sich umsetzte.

Als KATHA ihn zum letzten Mal in ihrem Leben sah, hatten sie beide schon lange die Rollen getauscht. Wenn ihr Vater sie, als sie anderthalb Jahre jung war, ins Leben führte und ihr das Malen beibrachte und ihr die schönen Künste lehrte, so führte sie ihn langsam aus seinem Leben heraus. Keiner wusste genau, wann es passiert und die meisten hatten sich bereits aus seinem, ehemals glamourösen Leben verabschiedet. Ihr Vater war inzwischen Quartalssäufer und seine despotischen Züge wurden von seinem Misstrauen geschürt, welches die irrsinnigsten Begebenheiten hervorrief. Er war durch die zehnjährige Vergoldung quecksilbervergiftet. Wenn seine Kinder ihn im Haus besuchten, warnte er regelmäßig, die Keramikteller bitte abzuspülen. Das auf den Tellern sei kein Staub. Das ist Quecksilber. So schoben die Kinder neugierig mit dem Finger den Staub zusammen, bis er in kleine silberne Kügelchen zusammenfloss, die über die braunen Keramikteller kullerten. Seine gesundheitlichen Auswirkungen dadurch, übertrafen sich in schwer nachvollziehbaren Situationen, so das der Respekt und das Blut, das sie verband, eher Schutzbefohlenheit und Sorge in seiner Tochter auslösten. Doch er, nennen wir ihn Pitty, befand sich schon lange auf hoher See zwischen schwindelerregenden Höhen und schwarzen Abgründen, begleitet von Delirien und Außerirdischen, die inzwischen bei ihm eingezogen waren. Katha nahm den zerfurchten Lehmweg mit Anlauf und fuhr von hinten auf das Gehöft. Sie mochte es nicht, dass die Bauern unten sahen, dass der alte Ludewig seine Tochter zu Besuch hatte. Zuerst versuchte sie durch die Küchentüre ins Haus zu gelangen, doch sie war abgeschlossen und so lief sie nach vorne herum und pochte laut an die Haustüre. „Ich bin nicht da!“ hörte sie ihren Vater rufen und sie antwortete, „Ich bin es Papa, mache bitte auf.“ Nach einiger Zeit öffnete sich die Türe einen Spalt und sie sah ihren Vater, der sich mit der Hand durch den Bart fuhr und mürrisch sagte, „Ich brauche nichts!“ „Darf ich trotzdem hereinkommen?“ Ja, antwortete er, „aber es ist alles dreckig, du musst dir etwas freiräumen und der Abwasch steht auch seit Wochen. Ich schaffe es nicht mehr.“ Katha trat ein in die hundert Quadratmeter Diele und konnte den Blick nicht von ihrem Vater lassen. „Was ist Dir passiert?“ „Ach nichts. Die Außerirdischen waren da und ich musste das Haus wieder verteidigen.“ Sie schaute in einen völlig zerschlagenen Kopf, dessen Brillenhämatom die rot eingelaufenen braunen Augen ihres Vaters kaum noch erkennen ließen. Seine Lippen waren eingerissen und blutig und zitternd versuchte er sich eine Zigarette in den Mund zu stecken. Seine Hände, deren Bildsprache und Gesten, ehemals literarischer Erotik glichen, waren vergilbt und lila angelaufen. Katha holte tief Luft und suchte ihre Kraft. Der Anblick ihres Vaters, in diesem eingelaufenen und verfilzten Schafwollpullover, den ihm ihre Mutter gestrickt hatte, warf in ihr kurz den Gedanken auf, einen Notarzt zu rufen. Er trug nichts untenherum. Sie sah seine dünnen Beine und seinen Penis, der ebenfalls blau war. So stand er in Socken da und versuchte sich immer noch die Zigarette anzuzünden. Katha ging in die Küche, wusch das Geschirr ab und brühte sich einen Kaffee auf. Sie lief zurück durch die große Diele und sah, dass die Barocktruhen unter dem Kaminsims offen standen, und hob im Gehen noch die umgekippten Bauernstühle auf. Der große Perserteppich, der vormals die Tanzfläche in der Diele ausfüllte, war in den Kamin gezogen und angebrannt. So setzte sie sich zu ihm ins Wohnzimmer. Er hatte die Fenster alle abgehängt und die offene Flamme des Bunsenbrenners beheizte den Raum über die Gasflasche. Katha fiel auf, dass die antiken Gläser und Teller nicht mehr im Barockschrank in den Fächern standen. Wo sind die Fayencen und antiken Gläser? Beiläufig antwortete ihr Vater, er hätte Geld gebraucht und sie verkauft. Es standen vier Stühle um den Wohnzimmertisch, die da nur stehen, wenn Besuch da war. Pitty lag auf dem Barocksofa und hatte es mit Decken abgehängt. Er rauchte und hustete und erbrach Schleim und Blut hinter das Sofa an der Wand herunter. „Willst du nicht ein paar Tage mit zu mir und den Kindern kommen?“ Pitty winkte kopfschüttelnd ab, während er weitersprach. „Sie waren da. Sie waren hier im Haus.“ „Das dachte ich mir bereits. Wer waren die?“ „Sie kamen vom Grünen Gewölbe mit einem Unternehmen aus Norwegen. Sie waren hier.“ Katha spürte ihres Vaters Verzweiflung und es war so schwer, die richtigen Worte zu finden. Er holte eine Flasche Wodka vom Fußboden neben dem Sofa hervor, schenkte das antike Lalique Glas auf dem Tisch randvoll ein und trank es in einem Zug leer. Die Situation war so dramatisch, umso mehr klammerte sie sich an den Gedanken, dass er vielleicht Wasser in die Flasche nachgefüllt hätte. Das Zimmer war inzwischen grau vernebelt vom Rauch und die offene Flamme aus der Gasflasche erzeugte ein Alkohol-Zigarettenrauch-Gas-Gemisch. Pitty goss noch einmal nach, bevor er erzählte, dass sie vom Grünen Gewölbe da waren mit einem Unternehmen aus Norwegen, wegen dem Quecksilber im Haus und Boden und sie hätten Proben genommen. „War Menzhausen mit?“ „Nein, die waren neu“, die kannte er nicht. „Was kam heraus?“ „Sie haben mich erpresst! Erpresst! Mich, der ihnen jahrelang den Arsch gerettet hat!“ Katha fragte, „Du wirst nicht auf Quecksilbervergiftung invalid geschrieben?“ Pitty trank das dritte Glas Wodka und rauchte und mit fast weinender Stimme sagte er, „Wenn sie mich, als quecksilbervergiftet, invalide schreiben und ich eine Entschädigung gezahlt bekomme, werden sie mich im Gegenzug wegen Grundwasserverunreinigung in Althof mit Quecksilber anzeigen!“ und mit vibrierender Stimme hängte er noch an, „Lachend haben sie gesagt, dass die Abfindung und der Verkauf meines Hauses nicht reichen werden, um die Grundwasserreinigung im ganzen Dorf zu bezahlen!“ Er solle besser auf Alkoholiker in Rente gehen. Katha spulte einen Film vor sich ab. Seit 20 Jahren begann jeder dritte Satz in der Familie mit „das Grüne Gewölbe“, zur Weltausstellung nach Amerika sind sie mit Pittys vergoldeten Wappen geflogen. Die Juwelen, die Korallenfrau und den Intarsien Schrank mit dem Perlmutt und Emaille Inletts hat er restauriert, den Mohr, den Hofstaat und die Lupe vor dem Kirschkern hatte er erfunden. Auf der internationalen Schmuckmesse in Jablonec hatte er mit seinen Schmuckstücken den 3. Platz gewonnen. Dieses Grüne Gewölbe wurde von ihrem Vater geprägt, seitdem die Russen die Kunstschätze nach Dresden zurückgebracht und er mit Gisela Haase die Aufarbeitung begonnen hatte und jetzt lassen sie ihn fallen? „Bitte gehe jetzt!“ Noch in Gedanken versunken, hörte sie unterbewusst, „Lass mich bitte allein!“ und schaute auf. Ihr Vater schwankte zur Haustür und Katha fragte, „Kann ich Dir noch irgendetwas helfen, Papa?“ Er schüttelte den Kopf und ging wieder zurück. „Nein. Nein. Mache nur die Tür von außen zu.“ Schwer beunruhigt und fassungslos ließ sie ihn allein.

Kurz darauf kam ihr Bruder mit seiner Frau zu ihr. Sie standen im Flur und eröffneten die Begrüßungszeremonie mit einem „Katha, Du musst jetzt tapfer sein.“ Sofort fragte sie zurück, was ist mit Vater? Sie setzten sich alle an einen Tisch und Ihr Bruder erzählte, er sei aus heiterem Himmel ins Krankenhaus gegangen und hatte noch zur Nachbarin gesagt, er hätte keine Lust mehr und ginge jetzt sterben. „Sage schöne Grüße an meine Kinder!“ Die Nachbarin dachte, es ist ein Schabernack. Nach drei Tagen rief das Krankenhaus an. „Es tut uns leid, ihr Vater ist verstorben. Johannes und Sabine fuhren sofort nach Althof und als sie das Haus betraten, fanden sie in der Asche im Kamin Pittys Unterlagen, wie seinen Personalausweis, Entwürfe, Krankenversicherungen, Steuerbescheide und sein Mitgliedsausweis aus dem VBK-Dresden, dem Verband Bildender Künstler, in dem er als Schmuckgestalter und Sektionschef der Abteilung Formgestaltung arbeitete. Der Perserteppich lag immer noch im Kamin und Sabine nahm die soweit erkenntlichen und verkokeltem Papiere heraus. Johannes war wie versteinert und zeigte keine Emotionen. Sie stellte sich neben Johannes, der immer noch gebannt auf den Kamin starrte. Sie fragte ihn, ob er es nicht seltsam finde, dass Pitty seine Papiere verbrannt habe. Sein ganzes Leben und seine Identität. Johannes versteckte seine Fäuste in seinen Hosentaschen und zuckte mit den Schultern. „Die Antwort kann uns nur das Grüne Gewölbe geben.“

Die letzten Tage meines Vaters Siegfried Gottfried Ludewig 1933-1994. Quecksilbervergiftet, alle Zähne verloren, Gischt in den Knochen, Lungenkrebs und nur noch Haut und Knochen.